Durch eine kaputte Scheibe dringt der Geruch von warmem Stein und frischem Laub. Leise raschelt die Platane vor dem Fenster. Es ist Tag der Gabe, und wir alle haben frei. Die meisten nutzen die Zeit, um ihre Wäsche zu waschen, sich in der Kneipe zu betrinken oder einfach nur auszuruhen.
- eine Woche = 10 Tage
- ein Jahr = 550 Tage = 55 Wochen
- erwachsen (arbeitsfähig, erbfähig, tätowiert) = 12 Jahre
- volljährig (heiratsfähig, Zugang zu öffentlichen Ämtern, voll straffähig) = 16 Jahre
- keine individuellen Geburtstage, es sei denn, sie fallen auf einen Feiertag; kollektive Geburtstage werden in der Mitte jeder Jahreszeit gefeiert
- der fünfte („Brückentag“) und zehnte („Tag der Gabe“) jeder Woche sind freigestellt; während am Brückentag üblicherweise halbe Schicht gemacht wird, herrscht am Tag der Gabe für die meisten Zünfte ein Arbeitsverbot
Das Verständnis der Morakar vom Verstreichen der Zeit ist auf Arbeitswochen und Jahreszeiten fokussiert, ist also in gleichem Maß geprägt von Kapitalismus und Natur. Einer Kultur mit drei „Monden“, die jeweils eine Jahreszeit oder länger am Himmel stehen (und bei denen es sich tatsächlich um Nachbarplaneten des gleichen Sonnensystems handelt, wie die Khjerawar früh erkannten) – einer solchen Zivilisation wird die Unterteilung in Monate nicht naturgemäß gegeben. Eine interessante Parallele des fehlenden Mittelfelds bei Größeneinheiten findet sich beim morakischen Geld:
- 10 Krowek = 1 Rien
- 1000 Rien = 1 Sowarein
Die gleiche klaffende Lücke, die in der Aufreihung Tag – Woche – Jahr erscheint, findet sich in Krowek – Rien – Sowarein. Es ist wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, dass dies ein kultureller Unterschied ist, der dem morakischen Betrachter nicht ins Auge fallen würde. Sowareinmünzen lassen sich halbieren und vierteilen, und Jahre auch…
Auf der westlichen Seite des Gebirges, wo Jahreszeitenwechsel weniger monumentale Auswirkung haben, wird das Jahr anders begriffen. Wochen sind kürzer, und Monate – gemessen an der Zeit, die eine Öldistel vom Keimling zur reifen Frucht benötigt – sind den verschiedenen Göttern gewidmet und dementsprechend wichtig… Doch wir befinden uns im Osten, und hier wissen die wenigsten auch nur eine khjerawische Gottheit zu nennen.
Kein Geburtstag und kein Grab
Auf jeder Seite dieses Buches finden sich Morakar, die versuchen, gegen den von ihnen empfundenen Mahlstrom der Zeit anzukämpfen. Vergänglichkeit und Vergessenheit sind stets nur einen Steinwurf entfernt, was eine interessante – und tragische – Dualität zum Wissen bewirkt. Nichts, so heißt es, wird in Moran je vergessen. Alles kommt wieder. Märchen, Lieder und Mythen verbreiten sich sehr schnell im Land, und der wahre Kern darin bleibt auch tausend Jahre später praktisch unverändert erhalten. Doch will man die Genealogie der legendären Figuren verfolgen, stößt man mit herkömmlichen Mitteln schnell auf Hindernisse. Keine Blutlinie Morans ist besser dokumentiert, so sollen sie als Beispiel herhalten: Die Reminar. Hier zwei Probleme, die beim Blättern in den Geschichtsbüchern sofort ersichtlich werden.

- Geburts- und Sterbedaten werden nur äußerst vage bezeichnet. Geburtstag ist die betreffende Jahreszeit (Quelle dessen mag einst, wie im Mittelalter, eine gewisse Wartezeit gewesen sein – ob das Kind denn überleben werde). Todesfälle werden auf die erste oder zweite Hälfte der Jahreszeit datiert, ein Zeitraum von bis zu 100 Tagen also.
- Der Mangel an Grabmälern und die Abweichungen innerhalb der Geschichtsbücher machen Datierungen von Hochzeiten, Todesfällen etc., die vor mehr als einigen hundert Jahren stattfanden, mitunter überraschend schwer. Man vermutet, dass Graf Sidling (Uskoniews Urgroßvater) zwischen 698 und 714 geboren wurde: Zu jener Zeit galt es als unhöflich, das Alter eines Adligen zu drucken, und am Tage seiner Krönung beschrieben ihn die Zeitungen wahlweise als „gesetzt“, „jugendhaft“, „energiegeladen“ und „resolut“. UMN schrieb […] sein weißes Haar verleiht Graf Sidling die Weisheit des Alters und die Frische eines Mannes in seiner höchsten Blüte. Man mache daraus, was man will.
Tatsächlich ist es beinahe unmöglich, in der Zeitung eine feste Altersangabe zu finden, denn die Journalisten (denen stets irgendeine Frist droht) haben Besseres zu tun, als sich für jeden Zeitungsbericht in den städtischen Archiven anzumelden und in den Geburtsurkunden zu blättern. Je älter eine Berühmtheit ist, desto ungenauer werden die Altersangaben. Manche Journalisten führen private Listen, die sie an ihre Juniorkollegen vererben. Eine solche nicht aktualisierte Liste führte dazu, dass Nesirine var Brutus – die langlebige Mutter von Derrik und Henrik – in der Sprochanie Mau ganze sechs Jahre lang nicht alterte. Der Fehler wurde erst entdeckt, als UMN Glückwünsche anlässlich ihres fünfzigsten Lebensjahrs druckte und jemandem in der Sprochanie-Redaktion auffiel, dass man ihr noch nicht zum fünfundvierzigsten gratuliert hatte.
Die bürokratische Kultur, die am Hof von Mau so prävalent scheint, ist jung. Amalranth var Remin und seine Gattin Scherberat sind für ihren Ursprung verantwortlich, und Uskoniew sorgte mit seiner obsessiv-genauen Art dafür, dass maurische Bürokratie bald ein bekanntes Übel wurde. Maurische, wohlgemerkt, nicht morakische: Andere Prowidenzen handhaben ihre Bevölkerung deutlich pragmatischer und mit nur einem Bruchteil der zahllosen Sekretäre, die in Mau herumschwirren. Wer Alois Pellbeck beim Protokollieren jeder Ratssitzung beobachtet, kann schnell dem Trugschluss erliegen, dieses Verhalten habe Tradition. Ich fordere den derart überzeugten Leser dazu auf, mir eine Liste der Stadtratsmitglieder zur Zeit von Uskoniews Krönung vorzulegen. Nicht, worüber sie sprachen, nur die Mitglieder: Die damaligen Patrone und Gildensprecher, Handelsvertreter und Lokalminister. Allesamt wohldokumentierte Posten, wie man meinen sollte.
Nein? Keine Sorge, das kann niemand.
Das Gestern schläft, bis man es weckt
Die grundlegende morakische Mentalität lässt sich derart zusammenfassen: Das Heute muss ich morgen nicht beweisen.
Es liegt starker Fokus auf der Gegenwart und ihrer nachweislichen Richtigkeit, und sehr wenig auf der Vergangenheit. Das mag paradox erscheinen, doch ich will versuchen, es anhand einiger Beispiele zu erläutern.
1. Ein Graf wird die Legitimität und Blutlinie seines neugeborenen Kindes von mehreren unabhängigen Quellen bestätigen lassen und diese Ergebnisse veröffentlichen, doch er wird für gewöhnlich keine Schritte unternehmen, diese Dokumente zu archivieren.
2. Begräbnisse sind sehr emotionale Zeremonien, bei der getrocknete Kräuter verbrannt, Reden über den Verstorbenen gehalten und jahrhundertealte Klagelieder gesungen werden. Es wird jedoch kein Grabmal errichtet, um die Stelle für zukünftige Besuche zu markieren.
3. Wenn ein Verbrechen ohne Strafe verjährt, weil es an Beweisen mangelt, wird es…. hingenommen. Es mag unerhört scheinen, dass Henrik nas ben Brutus mit dem Mord an einem Hochadligen davonkam, danach den Nerv besaß, sich Kruwo („der Blutige“) zu taufen und, das muss man sich ins Bewusstsein rufen, mit diesem Namen salonfähig und beliebt wurde. Und dies ist kein schweigender Auswuchs einer zum Wegsehen erzogenen Oberschicht; Kruwos Hergang ist ungefähr das erste, was man aus jedermanns Munde über ihn erfährt. Sein Vater war weder unbeliebt noch seinerseits ein Verbrecher. Nein, die Sache ist geschehen, da kann man nichts machen, und mangels triftiger Beweise sollen Kruwos Ahnen darüber richten.
Es ist klar, dass diese Mentalität – ob man sie als vergebend oder als verharmlosend ansehen will – nicht im Sinne des Opfers spielt.
Der gemeine Morak geht im Grunde seines Herzens davon aus, dass jeder sein Bestes gibt, alles recht zu tun, und zeigt Verstöße gegen diesen Ethos sofort an. Eine sehr geringe Toleranz gegen Nachlässigkeit und Fehlerhaftigkeit führt zu einem gesteigerten Vertrauen in das Endprodukt, sodass – gefühlt – kaum etwas später beweisbar sein muss. Schließlich haben alle ihr Möglichstes gegeben und die Lage kritisch von allen Seiten betrachtet. Es wurde gut gemacht. Das wird stets vorausgesetzt.