Zu wissen, dass die Jahre auf Tewranhje anders vergehen, ist eine Sache – zu verstehen, was das bedeutet, eine ganz andere. Ein Jahr ist eine quälend lange Zeit.

Seit drei Jahren suche ich schon, das sind eintausend und sechshundertfünfzig Tage des Fragens und Umhörens und mit-leeren-Händen-Heimkehrens…
Der Tag hat vierundzwanzig Stunden, das Jahr hat fünfhundertfünzig Tage. Wie wirkt sich das auf die Bevölkerung aus?
Ein zwölfjähriges Kind auf Tewranhje hat so viele Tage wie ein achtzehnjähriges Kind auf der Erde erlebt. Das bedeutet nicht, dass auch eine vergleichbare körperliche und emotionale Reife eingetreten ist. Der Reifeprozess vollzieht sich – in Tagen gemessen – deutlich langsamer als auf der Erde: Das Einsetzen der Pubertät, bei uns mit 13 Jahren erwartet, ist dort im elften Lebensjahr normal – das sind jedoch so viele Tage wie 16 Erdenjahre. Der Alterungsprozess vollzieht sich schleichend, und die durchschnittliche Lebenserwartung ist trotz der frühindustriellen Zustände deutlich höher als auf der modernen Erde. Als Spezies bewegt sich die tewranhjener Menschheit langsamer fort, in diesem wie in vielen anderen Punkten.
Hier eine spoilerfreie Liste von Altersverhältnissen, die einige Hergänge in Perspektive setzen. Diese Zahlen sind gerundet; wen die Sache genauer interessiert – die Formel lautet Alter x 550 / 365. Der erste Teil errechnet die bisherige Anzahl von Lebenstagen, der zweite bestimmt, in wie viele Jahre diese Tage auf der Erde unterteilt sein würden. Vereinfacht: Alter x 1,5.
- Belabesch-Absolventen werden im Alter von zwölf Jahren in den Dienst entlassen, das entspricht achtzehn Jahren auf der Erde. Arvens Fassungslosigkeit darüber („Ich kann also Alois eintauschen oder ein Kind… kaufen.“) ist ein Spiegel der Tatsache, dass die ihm angebotenen Schüler trotz ihrer überragenden Ausbildung die emotionale Reife eines Fünfzehnjährigen nicht überschritten haben.
- Jatka wird knapp sechs Jahre lang von seiner großen Schwester Newa aufgezogen. Das entspricht einer gemeinsamen Zeit von neun Jahren. Er sucht sie seit drei Jahren, was viereinhalb Jahren entspricht.
- Jatka ist zu Beginn der Geschichte gerade sechzehn Jahre alt geworden (24 Jahre auf der Erde) und ist, meiner fachkundigen Einschätzung nach, etwa auf dem Stand eines Neunzehnjährigen.
- Hjartan ist achtzehn (27 Jahre auf der Erde) und lebt seit dem Äquivalent zu neun Jahren mit seiner Wahlfamilie in der Sestra. Mit Jatka ist er seit zweieinhalb Jahren (3,75 Jahre auf der Erde) zusammen.
- Jinu, Octopus und Arven sind 28 Jahre alt. Das entspricht 42 Jahren. Äußerlich würde man sie auf vierunddreißig schätzen.
- Nesto, Alyce und Revca sind 26. Das entspricht 39 Jahren. Äußerlich würde man sie auf etwa dreißig schätzen. Revca wirkt ob ihres physisch zehrenden Berufs sichtbar älter.
- Die Lebenserwartung von Graf Tito ist bei guter Gesundheit mindestens 75 Jahre. In Tagen gemessen entspricht das 113 Jahren auf der Erde.
- Die stark verkürzte Lebenszeit der weißhaarigen Reminar liegt für gewöhnlich bei 45-50 Jahren; das entspricht 67-75 Jahren.
- Die Reminar herrschen seit 1071 Jahren über Moran. Auf der Erde wären das 1614 Jahre.
Naturgewalten
Wie lebt es sich auf einem solchen Planeten? Welchen Impact haben Naturphänomene, wenn man ihnen über so lange Zeit gleichbleibend ausgesetzt ist? Man betrachte die folgende Liste.
| Frühling | Mischwetter, viel Regen, viel Wind | 0-25°C | 100 Tage |
| Frühsommer | vorwiegend Sonne, wenig Regen, wenig Wind | 26°-36°C | 75 Tage |
| Hochsommer | Sonnenschein, kein Regen, kein Wind | 37°-47°C | 150 Tage |
| Spätsommer | vorwiegend Sonne, wenig Regen, wenig Wind | 47°-26°C | 75 Tage |
| Herbst | Mischwetter, viel Regen, viel Wind | 25°- -5°C | 100 Tage |
| Frühwinter | starker Schneefall, wenig Wind | -6° – -20°C | 75 Tage |
| Tiefwinter | Sonnenschein, kein Schnee, kein Wind | -25° – -55°C | 150 Tage |
| Spätwinter | leichter Schneefall, wenig Wind | -20° – -5°C | 75 Tage |
Dies sind übrigens die Temperaturen in der Stadt Mau. Die Prowidenz hat eines der extremsten Klimata in Moran (kalte Hriimluft, trockenheiße Wüstenluft aus Nordwest, und in der Hauptschneise des Windschlags gelegen). Die übrigen Prowidenzen nördlich der Frostgrenze haben für gewöhnlich Temperaturen zwischen -33° und 38°C, was im Vergleich ziemlich gemäßigt erscheint. Auf welche Art prägt es eine Kultur, 150 Tage bei strahlend blauem Himmel und minus fünfzig Grad zu verbringen? Welche Charaktereigenschaften geben die Poeten dem Wind, der in den extremsten Jahreszeiten einfach zum Erliegen kommt? Dazu kommen die „Monde“, die mit dem Wechsel der Jahreszeiten erscheinen und verschwinden. Vielleicht kann sich keiner von uns wirklich vorstellen, wie unerbittlich die tewranhjener Jahreszeiten sich anfühlen. Eins ist sicher: Man hat im Winter sehr viel Zeit, um Krieg und Frieden zu schreiben.
Terms & Conditions apply
Einigen Trugschlüssen möchte ich an dieser Stelle vorgreifen.
– Die extrem langen Schwangerschaften der Morakar (370-500 Tage abhängig von der vererbten Menge an Wissen) sind nicht mit ihrer langsameren Entwicklung oder der höheren Lebenserwartung verknüpft. Khjerawische Frauen, die im Schnitt genauso lange leben, tragen ihre Babies nur rund 270 Tage (neun Erdmonate) und können relativ problemlos zehn oder mehr Kinder bekommen. All diese Kinder benötigen jedoch die gleiche Entwicklungszeit wie morakische oder seweranische Kinder, und eine große Familie zeugt von Wohlstand.
– Zwölf Jahre ist das legale morakische Arbeitsalter. Dazu zählen auch Armeedienst und Prostitution. Das bedeutet nicht, dass ich die Ansicht vertrete, Jugendliche mit der Reife eines Fünfzehnjährigen sollten auf dem Strich oder im Bund zu finden sein. Auch nach morakischen Vorstellungen ist das jung und unreif, und Volljährigkeit (heiratsfähig, voll straffähig) erreichen Morakar erst mit sechzehn. Woher also kommt dieses Gesetz?
Das strikte Verbot, nicht-tätowierte Kinder zu beschäftigen, wurde von Graf Barionth im Jahr 431 zur Unterbindung der damals weitverbreiteten Kinderarbeit durchgesetzt. Die schon zur Epochenwende eingeführte gesetzliche Gleichstellung der Berufe (keine Ausnahmen für die Garda oder die reichen Fabrikbesitzer) sorgte dafür, dass solche Regulationen schnell und flächendeckend durchgesetzt werden konnten.
Bei diesem Thema zeigt sich besonders deutlich der Klassenunterschied. Während der Oberschicht die Vorstellung vollkommen fremd ist, stand Hjartan frühmorgens am Tag nach seinem zwölften Geburtstag am Fabriktor, umringt von fünfzig anderen. Diese Art der Arbeit ist kein „wollen“ oder „müssen“ für die Bewohner der Sestra, es ist einfach, was man tut. Diejenigen, die kritische Pamphlete darüber schreiben, haben noch nie einen Fuß aus dem Lian Tundra gesetzt.
Mit zwölf Jahren hat fast jeder, Stadtbürger oder nicht, die (von Graf Barionth kostenlos gemachte) Mittelschule beendet und kann lesen, schreiben, rechnen und eine Landkarte entziffern. Es ist keine perfekte Welt und in vielerlei Hinsicht auch keine gute. Aber auf Graf Barionth können wir alle mal anstoßen.